Russlanddeutsche

Ein Volk auf der Wanderschaft von Otto Hertel

Wirtschaftlicher Ruin und Analphabetismus

Einen neuen Schlag erlitt das Russlanddeutschtum im ersten Weltkrieg, weil Deutschland und Russland gegeneinander Krieg führten. Die Gesetze vom 2. Februar und 13. Dezember 1915 bestimmten, dass bei allen Deutschen in einem Streifen von 100 bis 150 Kilometern östlich der Westgrenze "das unbewegliche Vermögen zu enteignen" sei und dass die Deutschen aus dieser Zone auszusiedeln hätten.


Abb.: Der Blütezeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts folgten in er Stalinzeit für die Russlanddeutschen wirtschaftlicher Ruin und Unterdrückung von Kultur- und nationaler Identität. Das Foto zeigt eine nach Mittelasien umgesiedelte Familie vor ihrem kargen Haus um das Jahr 1958.

 

Durchgeführt wurde dieses Gesetz nur in Wolhynien. 50000 Wolhyniendeutsche traten vollkommen verarmt den Weg nach Sibirien an; die Mehrzahl kam während des langen Transports um.

Der Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit wurde strengstens verboten, ebenso der Erwerb von wirtschaftlichen Gütern. Wegen des Ausbruchs der Revolution im Februar 1917 kam dieses Gesetz in den anderen Siedlungsgebieten nicht zur Ausführung (die Wolgadeutschen sollten im April 1917 deportiert werden).

Die Slawophilen schürten während des Krieges den Deutschenhass. Wenn in der Selbstverwaltung schon vor der Jahrhundertwende die Kompetenzen der Verwaltungskörperschaften und der gewählten (deutschen) Beamten stark beschränkt wurden, so war der Schulze nun nicht mehr viel mehr als der Büttel der Staatsgewalt, den man für die Eintreibung der hohen Steuern verantwortlich machte.

Krieg gegen das Deutschtum

Die Worte des russischen Ministerpräsidenten Goremykin sprechen für sich: "Wir führen Krieg nicht nur gegen das Deutsche Reich, sondern gegen das Deutschtum überhaupt." Die Kolonisten ausländischer Abstammung sollten innerhalb von zehn beziehungsweise 16 Monaten ihren Grundbesitz verkaufen. Es gab aber bei weitem nicht so viele Kaufinteressenten für diese Grundstücke. Bei der Versteigerung hatte die Staatsbank das Vorkaufsrecht und konnte dadurch die Grundstückspreise bis auf zehn Prozent des Vorkriegswertes herunterdrücken. Von dem niedrigen Erlös wurde jedoch nur ein kleiner Teil bar ausgezahlt, der Hauptteil wurde in unverkäuflichen 4,5prozentigen Namensobligationen angelegt, die erst nach 25 Jahren fällig waren.

Das war der wirtschaftliche Ruin für die Deutschen in Russland, der mit dem gleichzeitigen Rückgang der Saatflächen zu beträchtlichen Engpässen bei der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung und des Heeres führte. Als Reaktion auf diese Situation beschloss eine Versammlung aus Vertretern der den Wolgakolonien benachbarten Stadtparlamente und Börsenkomitees, der Landschaftsversammlungen und Unternehmer einstimmig folgende Resolution:

 "Die unter uns wohnenden deutschen Kolonisten sind ebensolche russische Bürger wie wir alle. In unserem Gau sind die Kolonisten unersetzliche Landwirte. Wir sind verpflichtet, fest und bestimmt zu erklären, dass die Liquidierung der deutschen Ländereien besonders bei der gegenwärtigen allgemeinen landwirtschaftlichen Krise eine ungerechte und verderbliche Maßnahme ist, nicht nur für die Kolonisten, sondern auch für den ganzen Gau. Sie wird sich auch in ganz Russland fühlbar erweisen. "

Es gab auch - im Gegensatz zu den Vertretern der Slawophilen - Stimmen in der russischen Öffentlichkeit, die sich den drakonischen Maßnahmen gegen die Deutschen in Russland widersetzten, weshalb wohl auch die absolute Enteignung und Vertreibung aller Deutschen aus ihren Wohnorten im ersten Weltkrieg ausblieb.

Jedoch der Weltkrieg und der darauf folgende Bürgerkrieg (1917-19) hatten die deutsche Bevölkerung in Russland nicht nur an die Grenzen des wirtschaftlichen Ruins gebracht, sondern diese verzeichnete auch sehr große personelle Verluste: 40000 Soldaten aus den Wolgakolonien waren auf den Schlachtfeldern (hauptsächlich an der türkischen Front) geblieben. Durch Kriegsereignisse, Flucht und Hungersnot war die Zahl der Deutschen in vergleichbaren Grenzen von 1621000 (1914) auf 1247000 (1926) zurückgegangen. Laut Volkszählung von 1926 lebten im Wolgagebiet nur noch 379630 Deutsche gegenüber 650000 im Jahre 1914. Für das Schwarzmeergebiet lauteten die entsprechenden Zahlen 355000 gegenüber 650000. Und das sechs Jahre nach Beendigung der Kriegsereignisse und nach dem seit Beginn der 20er Jahre einsetzenden Aufschwung, der durch die "Neue ökonomische Politik" möglich gemacht worden war.


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Einigungsbewegung

Die Liquidationsgesetze, das Verbot der deutschen Sprache, Enteignungen und Verbannung hatten während des ersten Weltkrieges und der darauf folgenden Schrecken des Bürgerkrieges eine deutsche Einigungsbewegung hervorgerufen, die verschiedene Siedlungsgebiete miteinbezog. Vom Baltikum bis Sibirien wuchs das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Bedürfnis gemeinsamer Aktionen gegen die Liquidationsgesetze und deren Folgen nach 1917.

Vom Sommer 1917 an bis 1924 wurden Komitees gebildet, die sich mit Petitionen an die Regierung wandten und die für die Anerkennung der Gleichberechtigung der Deutschen mit den anderen Bevölkerungsgruppen Russlands beziehungsweise der Sowjetunion eintraten.

1918 wurde eine "autonome Arbeiterkommune" an der Wolga gebildet, 1924 die Autonome Republik der Wolgadeutschen ausgerufen, 1926 wurde die Verfassung dieser Republik angenommen. In anderen Gebieten wurden deutsche nationale Kreise (mit gemischter Bevölkerung) gegründet: sechs in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), je einer auf der Krim und im Altai-Gebiet, neun in der Ukraine, einer in Georgien und einer in Aserbaidschan.

Es kam zu einem stürmischen jedoch kurzem Aufschwung im Leben der deutschen Volksminderheit. Schon in den ersten zehn Jahren entwickelte die Wolgarepublik ihre Industrie und mechanisierte ihre Landwirtschaft. Hinsichtlich der Einführung der Produktionsmethoden in der Landwirtschaft nahm die Republik der Wolgadeutschen einen führenden Platz in der UdSSR ein. Das gleiche galt auch für die deutschen Kreise (Rajons).

Gleichzeitig mit dem Wachstum und den Wandlungen in der Volkswirtschaft begann sich auch die Kultur zu entfalten. Allein in der Wolgarepublik gab es 1921 schon 317 deutsche Schulen 1. Stufe und 23 Schulen 11. Stufe, fünf Hochschulen, elf Techniken, National- und Kindertheater und auch einige Verlage. Es gab ebenfalls deutsche Schulen in einer Reihe von Großstädten und in den deutschen Rajons. Allerdings durften diese Lehranstalten schon keine christlichen Schulen mehr sein. Fleiß und Leistungen der Russlanddeutschen wurden gelobt und anerkannt.

Stalins Entkulakisierung

1929/30 setzte unter Stalin die Entkulakisierung (Enteignung und Verbannung) sowie Kollektivierung ein. Weil die Deutschen sich nach den Kriegen zwischen 1914 und 1920 in zehn Jahren durch die "Neue Ökonomische Politik" und die Gleichstellung mit anderen Volksgruppen wirtschaftlich wieder etwas besser standen als manche ihrer Nachbarn, traf sie diese Kampagne besonders hart. Noch härter wurden die Deutschen durch das Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland und damit durch die "Stalinschen" Säuberungsaktionen zwischen 1936 und 1939 betroffen. In manchen Ortschaften wurde mehr als die Hälfte aller deutschen Männer verhaftet. In ganz seltenen Fällen ist jemand von ihnen zurückgekehrt.

Der zweite Weltkrieg hat allen Völkern Europas unsägliches Elend gebracht. Einen besonders hohen Preis haben dabei die Deutschen in der UdSSR zahlen müssen.

 Von August 1941 bis März 1942 wurden die Angehörigen der deutschen Minderheit aus dem europäischen Teil des Landes nach Sibirien, Kasachstan und Mittelasien deportiert. Anschließend wurden die noch verbliebenen Männer, 1942 auch die Frauen (außer Mütter von Kleinkindern und Kranken) in die so genannte Arbeitsarmee eingezogen. Die Verhältnisse, unter denen sie arbeiten mussten, waren wie in einem Gefangenenlager (zumindest für die Männer) mit strenger Bewachung, Schwerstarbeit und psychischem Druck von Seiten der Vorgesetzten.

 Sehr viele starben den Schwächetod. Wegen des schnellen Vormarsches der deutschen Truppen 1941 war man nicht fertig geworden, die Deutschen westlich des Dnepr ins Hinterland zu deportieren (350000 Personen). Diese wurden 1943/ 44 in den Warthegau und von dort teilweise nach Deutschland umgesiedelt. Beim Einmarsch der Roten Armee in Deutschland wurden 250000 (100000 der 350000 umgesiedelten Deutschen waren in den Westen und nach Obersee entkommen) "wegen Verrats der sozialistischen Heimat" nach Sibirien, in den Nordural oder nach Mittelasien gebracht, zu Zwangsarbeit verurteilt und einer Sonderkommandantur unterstellt, bei der sie sich regelmäßig melden mussten.


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Auf ewig verbannt

Die Deutschen hatten von 1947 bis 1956 nicht das Recht, die Grenzen ihres Kreises (unter Umständen ihres Gebiets) zu überschreiten. Für die Verletzung dieses Erlasses (Verordnung) gab es bis zu 20 Jahre Zuchthaus. Laut Erlass des Obersten Sowjets waren die Deutschen "auf ewige Zeiten verbannt und der Sonderkommandantur unterstellt".

Frauen als Holzfällerinnen in den Urwäldern Sibiriens, als Arbeiterinnen in den Bergwerken des Ural und in den Kohlengruben jenseits des Polarkreises, klägliche Brotrationen von 300 Gramm, keinerlei Hoffnung auf Erlösung. Unter diesen Bedingungen wurde ein nicht unerheblicher Teil dieser Generation der Deutschen im stalinistischen Russland zu Analphabeten.

Nach Stalins Tod, dem Besuch Adenauers in Moskau und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Moskau und Bonn erließ der Oberste Sowjet der UdSSR am 13. Dezember 1955 das Dekret "Über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtstellung der Deutschen und ihrer Familienangehörigen, die sich in den Sondersiedlungen befinden". Die Kommandantur wurde abgeschafft, aber das Verbot, in die früheren Wohnorte zurückzukehren sowie Ansprüche auf requiriertes Vermögen zu erheben, blieb. Durch dieses Dekret wurden die Deutschen zwar nicht vollständig rehabilitiert, aber sie konnten jetzt ihre Verwandten und Bekannten aufsuchen. Viele zogen aus den kalten Regionen Sibiriens und des hohen Nordens in wärmere Gegenden Mittelasiens und Kasachstans. Es gab wieder einige deutsche Zeitungen (1957 "Neues Leben" in Moskau, "Rote Fahne" 1955 im Altai). 1960 erschien der erste Sammelband deutscher Autoren, Gläubige knüpften erste Kontakte zu Glaubensbrüdern im Ausland.

Am 29. August 1964 verabschiedete das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Beschluss "Ober die Abänderung des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 über die Umsiedlung der Wolgadeutschen". Dieser Beschluss nahm von den Russlanddeutschen den Makel des Verrats. Ihnen wurden aber nicht die Rückkehr in die alten Wohnorte mit Wiederherstellung der Autonomen Wolgadeutschen Republik sowie der deutschen Rajons mit gemischter Bevölkerung und anderer Bildungs- und kultureller Einrichtungen genehmigt. Zwar wurden Verordnungen erlassen, wonach „…die Anzahl derjenigen, die eine Ausbildung in den Abendschulen nötig haben, sowie die Anzahl der Analphabeten und Halbanalphabeten unter der deutschen Bevölkerung festzustellen und deren Unterrichtung zu organisieren sei". Es wurde auch eine zusätzliche deutsche Zeitung "Freundschaft" in Kasachstan herausgegeben und für zirka 15 Prozent der deutschen Kinder der Unterricht der deutschen Muttersprache eingeführt. In jüngster Zeit ist auch ein deutsches Wandertheater in Kasachstan gegründet worden. Aber diese Maßnahmen sind bei der großen Zerstreuung der Deutschen kaum wirksam für die Erhaltung der Kultur und Identität der Deutschen in der Sowjetunion.

Es gibt in den letzten Jahren auch einige Abgeordnete des Obersten Sowjets, eine größere Anzahl auf kommunaler Ebene. Diese Abgeordneten vertreten aber nicht die Belange der deutschen Bevölkerung, sondern sind zuständig für die Gesamtbevölkerung ihres Wahlkreises.

Deutsch"mangelhaft"

Von den rund zwei Millionen Deutschen (1979), die sich bei der Volkszählung als solche eintragen ließen, gaben nur noch 57,7 Prozent Deutsch als Muttersprache an. 1926 waren es 95 Prozent, 1959 noch 75 Prozent. Die Kenntnisse der Deutschen, die zu Hause noch Deutsch sprechen, sind auf dem Gebiet der deutschen Sprache nur sehr mangelhaft, weil sie keine deutsche Schule besucht haben. Mit bestimmten Beschränkungen sind jetzt auch wieder Kirchen zugelassen, die aber sehr oft gemischt sind (Deutsche mit Russen, Ukrainern oder Letten), was an und für sich nicht negativ einzuschätzen wäre, da es der Annäherung und den freundschaftlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Völkerschaften dient. Aber hierdurch wird den Deutschen die letzte Möglichkeit genommen, ihre Muttersprache noch schriftlich und gemeinsam in der Öffentlichkeit zu erleben und zu gebrauchen.

In der Industrie (die Urbanisierung hat inzwischen unter den Deutschen den Wert von 50 Prozent überschritten) und in der Landwirtschaft sind die Deutschen heute geachtete Mitarbeiter am Arbeitsplatz, und man bemüht sich sichtlich um ihre politische Integration. Sie werden auch für gute Arbeitsleistungen ausgezeichnet.

 Die schlimme Vergangenheit ist jedoch noch lange nicht bewältigt. In den meisten Fällen fehlen vor Ort die Führungskräfte, die sich für die Erhaltung der deutschen Sprache wirkungsvoll einsetzen könnten.

Stand 1990

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