Russlanddeutsche

Ein Volk auf der Wanderschaft von Otto Hertel

Sie wollen als Deutsche unter Deutschen leben

Abgesehen von den kleineren Einwanderergruppen seit dem Mittelalter, den Baltendeutschen sowie dem städtischen Deutschtum in Moskau und Petersburg, hatte die Einwanderung größerer Gruppen von Deutschen nach Russland von 1763 bis 1870, etwa 107 Jahre lang, angedauert. Über 140000 Quadratkilometer Land befanden sich zu den Blütezeiten im Besitz der Deutschen, das ist mehr als die Hälfte der heutigen Fläche der Bundesrepublik. Die Auswanderung begann mit der Aufhebung der früher zugesicherten Rechte und wegen der auferlegten Beschränkungen schon 1873; sie dauert bis jetzt an (zirka 113 Jahre).

Bis zum ersten Weltkrieg sind schätzungsweise 300000 Deutsche aus Russland ausgewandert - hauptsächlich nach Amerika (Kanada, USA, Brasilien, Argentinien). Durch die Liquidationsgesetze und deren Folgen - Enteignungen, Verban­nungen 1929 bis 1932 und Verhaftungen 1936 bis 1939 unter Stalin, die Ereignisse und Schicksalsschläge durch den von Hitlerdeutschland begonnenen zweiten Weltkrieg und dessen Folgen - haben dazu geführt, dass sich die Auswande­rungsbestrebungen der Deutschen in Russland (Sowjetunion) in verstärktem Maße bemerkbar machten. Durch die Weltkriege und durch Auswanderung hatte es viele Familientrennungen gegeben, die ein zusätzliches Motiv der Abwanderung bildeten.

Durch Bemühungen der bundesdeutschen Regierungen haben seit Beginn der 50er Jahre bis jetzt rund 100000 Deutsche in die Bundesrepublik einreisen dürfen, einige tausend haben die Genehmigung erhalten, aus der UdSSR in die DDR umzusiedeln. Es ist auch ein Teil im Zuge der Familienzusammenführung nach Übersee gegangen. Laut Angaben des Deutschen Roten Kreuzes sind noch zirka 70000 Ausreiseanträge unerledigt. Von den zwei Millionen Deutschen, die heute noch in der UdSSR leben, würden wohl viele auf eine Ausreise verzichten, wenn die Besuchsreisen noch freizügiger genehmigt würden, denn die jüngere Generation weiß wenig von der leidvollen Vergangenheit ihrer Eltern und hat sich mit dem Leben in der UdSSR zum Teil abgefunden. (Stand um 1990)

Gut eingelebt

Die überwältigende Mehrheit der Heimkehrer beziehungsweise Spätaussiedler hat sich trotz bestimmter anfänglicher Schwierigkeiten gut eingelebt, was nicht zuletzt durch Genügsamkeit, Sparsamkeit und gegenseitige Hilfsbereitschaft im einzelnen, aber auch durch Opferbereitschaft für das Gemeinwohl zu erklären ist. Wenn es um Arbeitsaufnahme geht, so sind die meisten bereit, einen oftmals bedeutenden sozialen Abstieg in Kauf zu nehmen. Ingenieure beispielsweise machen einen Schlosserlehrgang und übernehmen anschließend eine entsprechende Beschäftigung. Es sind auch Fälle von Frauen mit Hochschulbildung bekannt, die ohne Bedenken den Dienst einer Putzfrau übernommen haben und dabei zufrieden und dankbar geblieben sind.

Es werden oftmals zu Schrott gefahrene Autos gekauft, nahezu zu 100 Prozent in Eigenleistung repariert und für den Eigengebrauch fertig gestellt. Das gleiche gilt öfters auch für andere Gebrauchsartikel oder für den Erwerb von Waren aus dem Sonderangebot. Groß ist die Zahl der Aussiedlerfamilien, die als kinderreiche Familien günstige Darlehen erhalten und dann zum großen Teil durch Eigenleistung in zwei bis drei Jahren ihr Eigenheim errichtet haben.


Kreis Lippe. Dass viele der Spätaussiedler schon nach kurzer Zeit in Lippe in die eigenen vier Wände ziehen können (wie hier am Hiddeser Berg in Detmold), liegt in ihrer Sparsamkeit und ihrem handwerklichen Geschick, das einen hohen Anteil an Eigenleistungen beim Bau ermöglicht, begründet.


Eigenleistung

Ein besonderes Kapitel bildet auch der Bau der Kirchengebäude, so das der Evangeliums-Christen-Brüdergemeinde zu Detmold. Die normale Bausumme von 1,8 Millionen Mark ist um 520000 Mark durch Eigenleistung gemindert worden. Den Großteil der 772000 Mark an Spenden haben die nahezu 300 Gemeindeglieder aufgebracht, dazu noch 216000 Mark Darlehen aufgenommen und für den Bau zur Verfügung gestellt. Befreundete Nachbargemeinden, Geldinstitute und Firmen spendeten 34000 Mark. Auf den heutigen Tag (Stand ca 1990) sind nur noch 80000 Mark Schulden zu begleichen geblieben.

Ungefähr unter den gleichen Bedingungen sind Kirchengebäude in vielen weiteren Gemeinden errichtet und ausgestattet worden - ohne oder mit sehr kleinen staatlichen Zuschüssen. Die Grundsteinlegung und Einweihung dieser Gotteshäuser war jedes Mal eine große Dankesfeier. Dank an Gott, Dank aber auch an die Spender, Vertreter der Firmen, Geldinstitute und Behörden, die sich direkt oder indirekt an der Betreuung der Heimkehrer und ihrer Belange beteiligt hatten. Eine Reihe von Heimkehrern beziehungsweise Aussiedlerfamilien hat hier Freunde unter den Alteingesessenen gefunden, pflegt und schätzt diese Freundschaft.

Bemerkenswert sind die Ergebnisse einer Untersuchung der Universität Bielefeld (Fakultät für Soziologie) über soziale Beziehungen und Bildung der Bevölkerung am Hiddeser Berg in Detmold: Nach den Türken (4,53) haben die Deutschen aus Russland (4,35) die höchste Anzahl der Personen pro Haushalt aufzuweisen (bei den einheimischen Deutschen nur 2,404); gleichzeitig ist das Einkommen pro Person im Monat bei den Russlanddeutschen nach den Türken (427,92 Mark/ Person) das niedrigste (439,60 Mark/Per­son); bei den Einheimischen 684,80 Mark/ Person; die Russlanddeutschen haben nur 2,1 Prozent Akademiker, nur 22,2 Prozent Rentner, auch nur 15,6 Prozent Beamte und Angestellte aufzuweisen (Deutsche aus Polen 36,4 Prozent Rentner, 27,3 Prozent Angestellte und Beamte; Einheimische entsprechend 36,7 Prozent und 22,5 Prozent).

Die Russlanddeutschen äußerten bei der Umfrage aber nach den Ausländern den höchsten Grad der Zufriedenheit mit ihrem Leben hier in der Bundesrepublik Deutschland. Auch eine Reihe von Untersuchungen in anderen Ländern der Bundesrepublik Deutschland hat ähnliche Ergebnisse geliefert.

Auf die Frage nach den Beweggründen der Auswanderung steht bei den Russlanddeutschen an erster Stelle der Wunsch, als Deutscher unter Deutschen leben zu wollen, gefolgt vom Verlangen nach mehr Freiheit und der Möglichkeit, sich individuell zu entfalten, besonders auf religiösem Gebiet. (Stand ca. 1990)

 Religiöse Identität

Obwohl man mit dem Leben in der Bundesrepublik zufrieden ist und täglich Gott dafür dankt, dass man in das Land der Väter hat zurückkehren dürfen, gibt es auch Enttäuschungen in Bezug auf die in Russland über 200 Jahre gepflegten ethischen Wertvorstellungen, die durch das gut funktionierende Ordnungssystem Kirche - Schule - Familie entwickelt und durch Pietät gefestigt worden waren. Man hatte sich von Deutschland ein eigenes Bild erträumt, das auf dem Gebiet der Wertvorstellungen zu sehr idealisiert war.

Aus unseren Gesprächen haben wir herausgehört, dass sich die Spätaussiedler einer Sexwelle gegenübersehen, sie konfrontiert werden mit Begriffen wie "wilde Ehe" und beabsichtigte Kinderlosigkeit, Konfliktpädagogik mit Aggressivität als Folge, Verhaltensstörungen und Orientierungslosigkeit vieler Jugendlicher, Ehescheidungen und Ehekonflikten. Auch wenn solche Erscheinungen nicht pauschaliert werden dürften - man weiß, dass entsprechende Darstellungen in Öffentlichkeit und Medien oft überzeichnet sind -, so rufen sie bei den Russlanddeutschen Traurigkeit und Besorgnis hervor, werden sie doch als Abkehr von Gott verstanden.

Die Spätaussiedler wünschen sich aufrichtig nähere Kontakte mit Nachbarn, mit einheimischen Kirchengemeinden. Gleichzeitig haben sie aber Minderwertigkeitskomplexe und manchmal auch unbegründete Hemmungen, weil sie befürchten, die eigenen Kinder könnten durch zufällige Kontakte auf schiefe Wege geraten.

Stand 1990

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